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Die letzte Hinrichtung in der Schweiz

Am 18. Oktober vor sechs Jahren (1945) wurde frühmorgens, wenige Minuten nach zwei Uhr, in Sarnen der dreifache Mörder Hans Vollenweider aus seiner Zelle in der Strafanstalt geholt. Die Hände auf dem Rücken gefesselt und die Augen verbunden, führte man ihn in eine hinter der Anstalt gelegene Scheuer. Der Raum war mit schwarzen Tüchern ausgeschlagen, die aus Luzern herbeigeholte Guillotine stand bereit. Die wenigen nach den Vollzugvorschriften des Kanton Obwalden zur Anwesenheit verpflichteten Personen standen um das Gerüst versammelt: zwei protestantische Geistliche, die dem Verurteilten den letzten Beistand zu leisten hatten, ein Arzt, zwei Urkunden Personen, vier Mann Wachtpersonal und der Schrfrichter.

Die polizeilichen Wächter hatten auch als Gehilfen des Scharfrichters zu amtieren. Nicht einal ein Minute verstrich von dem Zeitpunkt an, da der Verurteilte den düsteren Raum betrat, bis zum Augenblick, in dem der Scharfrichter das Fallschwert auslöste und der Kopf des Mörders fiel. Zum letzten Mal hatte damit in der Schweiz ein zivilgerichtlich abgeurteilter Verbrecher - von dem militärgerichtlichen Urteilen während der Kriegsjahre sehen wir hier ab - seine Taten dadurch gebüsst, dass er "vom Leben zum Tode gebracht" wurde. Mit der Einführung des schweizerischen Strafgesetzes am 1. Januar 1942 wurde die Todesstrafe in der Schweiz abgeschafft.



Eine Jahrzehntelang andauernde Diskussion um die Todesstrafe, die vor allem bei den letzten Hinrichtungen im 20.Jahrhundert immer wieder entbrannt war, hatte ihren Abschluss gefunden. Nach dem "Helvetischen peinlichen Gesetzbuch" von 1799 waren Mörder und Brandstifter noch in rotem Hemd zur öffentlichen Richtstätte zu führen. bereits 50 Jahre später, 1848, wurde die Todesstrafe nacheinander in den Kantonen Freiburg, Neuenburg, Zürich, Genf, Baselstadt, Baselland und Tessin abgeschafft. Für das Gebiet der ganzen Eidgenossenschaft verbot die revidierende Bundesverfassung des Jahres 1874 zum ersten Mal die Todesstrafe.

Eine Volksabstimmung, die im Hinblick auf diese Verfassungsrevision zehn Jahre zuvor durchgeführt wurde, ergab noch ein völlig eindeutiges Bild zugunsten der Beibehaltung der Todesstrafe: von den Stimmberechtigten sprachen sich 200`000 für und 108`000 gegen die Todesstrafe aus. Die revidierte Verfassung, die in Artikel 65 die Todesstrafe aufhob, wurde gleichwohl zehn Jahre danach angenommen. Schon 5 Jahre später aber wurden aus allen Teilen des Landes Massenpetitionen eingereicht, die eine neue Revision des Artikels 65 der Bundesverfassung forderten. Kurz vorher hatte Bismarck die Aufnahme der Todesstrafe in das deutsche Strafgesetzbuch durchgesetzt, und zahlreiche schwere Mordtaten in der Schweiz hatten den Befürwortern der Todesstrafe neuerdings die Oberhand gegeben.

Die Revision wurde 1879 mit verhältnismässig geringerem Mehr vom Volk angenommen. Den Kantonen war damit die Möglichkeit gegeben, die härteste Strafe wiederum in ihre Gesetze aufzunehmen. Lediglich für politische Verbrechen blieb die Todesstrafe weiterhin untersagt.

In den folgenden Jahren nahmen Luzern, Uri, Schwyz, Zug, Freiburg (ein Kanton, der die Todesstrafe 1848 als einer der ersten beseitigt hatte), Schaffhausen, Appenzell I.-Rh., St.Gallen und Wallis die Todesstrafe wieder in ihren Gesetzen auf. Die Strafe konnte übereinstimmend für Mord, vereinzelt auch für Totschlag gegenüber Verwandten, für Brandstiftung, Überschwemmung und Bahnentgleisung bei objektiv vorausschaubarer oder gar beabsichtigter Todesfolge, bei gemeingefährlichen Vergiftungen und bei Kindsmord im Rückfall in Anwendung gebracht werden.



Die Todesstrafe gegenüber Jugendlichen und schwangeren Frauen wurde in allen kantonalen Gesetzen ausgeschlossen. Der Vollzug hatte überall vor beschränkter Öffentlichkeit zu geschehen. In den meisten Vorschriften wurde ausdrücklich die Enthauptung als Vollzugsart bestimmt. Obgleich damit die rechtlichen Grundlagen wieder bestanden, sprachen die kantonalen Gerichtshöfe Todesurteile in den nächsten Jahren mit grösster Zurückhaltung aus, und in einer grossen Zahl von Fällen verhinderte die Begnadigungsinstanz eine tatsächliche Durchführung des Urteils und wandelte den todbringenden Richterspruch in Freiheitsstrafe um.

Während in den Jahren 1851 bis 1874 im Gebiet der Schweiz noch 37 Todesurteile vollstreckt wurden - in der gelichen Zeit wurden 51 zum Tode Verurteilte begnadigt -, kamen die Hinrichtungen nach der Revision von 1879 und der darauffolgenden Wiedereinführung der Todesstrafe immer seltener vor. Fand aber eine Exekution statt, so erschreckte die meist nur mit wenigen Worten in der Zeitung bekanntgegeben Tatsache weite Kreise der Bevölkerung. Und dies trotz der Empörung, die jeweils noch wenige Tage vorher während der gerichtlichen Verhandlungen über die zur Sprache gekommenen Untaten der Verbrecher geherrscht hatte.

Die Wiedereinführung der Todesstrafe hatte im Laufe der rund 60 Jahre, bis das schweizerische Strafgesetz in Kraft trat, nur neun Hinrichtungen zu Folge. In den Neunzigernjahren der letzen Jahrhunderts wurden drei Verbrecher hingerichtet; 1892 im Abstand von kaum einem halben Jahr zwei in Luzern und 1894 einer in Schwyz. Seit beginn dieses Jahrhunderts büssten noch sechs Verbrecher in der Schweiz ihre Taten auf dem Schafott: Am 1. Dezember 1901 erschlug der 25-Jährige Etienne Chatton seine Frau, die gleichfalls 25 Jahre alte Tochter des Posthalters Metraux in Neyruz (Kanton Freiburg), mit der Axt.



Der Mörder wartete am Sonntagmorgen, bis sich die Bewohner der Ortschaft zur Kirche begeben hatten, um dann ungestört seine Tat zu vollführen. Er konnte wenige Tage später verhaftet werden und wurde am 22.Januar 1902 zu Tode verurteilt. Der Grosse Rat beriet zwei Tage lang über das Begnadigungsgesuch, während der Scharfrichter Mengis aus Rheinfelden bereits in Freiburg eingetroffen war. Die Begnadigung wurde abgelehnt. Die Ratsherren verliessen nach Bekanntgabe des Abstimmungsresultats einigermassen bestürzt den Saal. Denn obgleich es galt, ein scheussliches Verbrechen zu Sühnen, und die gesetzlichen Grundlagen eindeutig waren, erschreckte erst die Gewissheit, dass Blut fliessen sollte, die Verantwortlichen und die Öffentlichkeit.

Chatton wurde im Inneren des Augustinergefängnisses durch die Guillotine enthauptet. In lebhafter Erinnerung dürfte noch der Fall des Matthias Muff aus dem Jahre 1909 sein, dessen Anklageschrift folgende Liste vorlegte: vierfacher Raubmord, vollendeter Mordversuch an zehn Personen, Raub in zwei Fällen mit einer Beute im Betrag von 11`344 Franken, Brandstiftung mit einem Schaden von 28`727 Franken, zwei Unterschlagungen und neun Diebstähle. Am 21. Dezember 1909 hatte Muff in dem einsam gelegenen Gehöft in der Hubschür bei Hellbühl (Kanton Luzern) den Pächter Bisang, dessen Frau und zwei Knechte erchossen.

Nachdem er den in der Anklageschrift erwähnten Betrag geraubt hatte, legte er an das Wohnhaus, in dem sich noch sieben Kinder und drei Erwachsene befanden, Feuer, allerdings ohne dass das Haus in Brand geraten wäre. Dagegen gelang es ihm die Scheune niederzubrennen. Der Raubmörder Muff, der am Heiligen Abend in Luzern verhaftet werden konnte, gestand dass er beabsichtigt hatte, das ganze Haus mit seinen vierzehn Personen zu vernichten. Während der Gerichtsverhandlungen rechnete er auf die "Humanitäts duselei" der Luzerner Gerichte. Darin sah er sich jedoch getäuscht. Das Todesurteil wurde gefällt. Muff, der die Schwere seiner taten inzwischen Offenbar eingesehen hatte, bat nicht um Begnadigung und betrat am 2.Mai 1910 morgens neun uhr, wie berichtet wird, als "reuhiger Sünder" die Richtstätte in Luzern.

Fünf Jahre später musste abermals in Luzern ein Mörder, Anselm Wütschert, der nach längerem vagabundieren im Ausland in seine luzernische Heimat zurückgekehrt war und einen Sexualmord verübt hatte, am 20.Januar 1915 hingerichtet werden. Im Kanton Uri hatte die letzte Hinrichtung im Jahre 1861 stattgefunden. Zu jener Zeit wurde der Verurteilte, ein gewisser Kaspar Zurfluh, der seine schwangere Braut getötet hatte, noch auf dem öffentlichen Richtplatz bei der Schächenbrücke von Hand mit dem Schwert enthauptet.



Erst 1924 stand in Altdorf wiederum ein Verbrecher vor Gericht, der dem Nachrichter übergeben wurde: Klemens Bernet. Der Täter war siebenmal vorbestraft. Er wurde nach Verbüssung einer Freiheitsstrafe am 30. August 1924 aus dem Gefängnis entlassen - mit fünf Rappen in der Tasche. Am nächsten Tage würgte er in Schattdorf die 15 jährige Josephine Scheiber, bis sie bewusstlos zusammenbrach. Als das Mädchen das Bewustsein wieder erlangte, schlug der Täter es mit den Fäusten und tötete sein Opfer zuletzt mit dem Taschenmesser. Die Beute, auf die es Bernet abgesehen hatte, betrug 350 Franken.

Am 15.Juli 1939 wurdem dem 26-Jährigen Paul Irninger in Zug vom Gerichtsschreiber in Anwesenheit des Verteidigers des Todesurteil verlesen. Der junge Verbrecher war damit zum zweitenmal zu dieser Strafe verurteilt worden. Bereits ein Jahr früher hatten ih die sankt-gallischen Richter zum Tode verurteilt. Irninger war der Mörder des Taxichauffeurs Werner Kessler, der im Jahre 1933 im Walde oberhalb Baar, beinahe am selben Ort, wo später Vollenweider eine seiner Mordtaten verübte, ermordet und ausgeraubt worden war.

Irninger war damals zwar in die Untersuchung einbezogen, als unverdächtig aber wieder entlassen worden. 1937 wurde er wegen Einbruchsdiebstahl in Rapperswil verhaftet. Auf dem Posten der Kantonspolizei erschoss Irninger den Polizisten Kellenberger und floh. Auf seiner Flucht tötete er am gleichen Tag den Chaffeur Döbeli. Als Irninger wieder verhaftet werden konnte, musste die Polizei den Schwerverbrecher schützen, weil ihm die empörten Leute, die an der Verfolgung teilgenommen hatten, ohne richterlichen Spruch hinrichten wollte.

Während Irninger vor dem grossen Rat des Kantons St.Gallen Gnade fand und sein erstes Todesurteil in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt wurde, zog er selbst in Zug die Appellation an das Obergericht zurück, womit das Todesurteil der ersten Instanz Rechtskraft erhielt. Das schweizerische Strafgesetz war zwar ein Jahr vorher angenommen worden, trat aber erst 1942 in Kraft. Am Morgen des Freitags, 25. August 1939, fiel Irningers Haupt in der Zuger Strafanstalt.

 

Hans Vollenweider schliesslich, der als letzter in der Schweiz auf das Schafott kam, erschoss am 20.Juni 1939 den Postbeamten Stoll in Zürich, um ihn seines Geldes zu berauben. Für diesen Mord konnte Vollenweider nie verurteilt werden. Kurz bevor hatte er bereits eine Mordtat im Walde an der Strasse von Sihlbrugg nach Baar begangen, deren Opfer der Chauffeur Zwyssig war. Vollenweider tötete ihn, um in den Besitz von Zwyssigs Ausweispapieren zu gelangen.

Auch für diesen Mord stand der Täter nie vor den Gerichtsschranken. Denn bei seiner Verhaftung am 23.Juni 1939 in Sachseln erschoss er den jungen Kantonspolizisten von Moos und wurde dafür in Sarnen zum Tode verurteilt. Nach seiner Hinrichtung mussten Zürich und Zug naturgemäss die gegen ihn laufenden Verfahren einstellen. Eines kann in bezug auf dieses hoffentlich endgültig geschlossene Kapitel schweizerischen Strafvollzuges festgestellt werden; die letzten vollstreckten Todesurteile zumindest trafen schwere Verbrecher, die ohne Ausnahme geständig waren, so dass ein justizirrtum völlig ausgeschlossen blieb. Das heute gültige schweizerische Strafgesetz kennt die Todesstrafe nicht mehr, und mit seiner Einführung ist auch die gefürchtete Person des Scharfrichters, auch Nachrichter, Henker, Freimann, Angstmann oder Meister Hämmerling und Züchtiger genannt, aus unserem Lande verschwunden. Die Verachtung, die im Mittelalter dem Scharfrichter und seinem als unehrlich geltenden Handwerk gegenüber an den Tag gelegt wurde, hatte sich bis in die jüngste Zeit erhalten. Das Mittelalter verbannte den Henker aus der bürgerlichen Gesellschaft, das städtische Bürgerrecht blieb ihm meist versagt, in keiner Zunft fand er Aufnahme, er hatte in besonderer Kleidung durch die Strasse zu gehen, musste in der Kirche einen gesonderten Platz einnehmen und kann beim Abendmahl als letzter an die Reihe. Beim Falle Bernets 1924 meldete sich ein Nachkomme der schweizerischen Scharfrichterfamilie Mengis, die seit dem Jahre 1650 ständig das Henkeramt in unserem Lande ausübte.

Dieser Nachfahre hatte in Luzern bereits einmal eine Hinrichtung vollzogen, ging aber seit langem einer friedlicheren Betätigung nach: Mengis war Weichenwärter bei den Bundesbahnen in Zürich. Als das Angebot von Mengis bekannt wurde, erfolgte sofort ein Protest des Weichenwärtervereins und der Platzunion des eidgenössischen Verkehrspersonals in Zürich. Die Folge davon war, dass Mengis von seinen Vorgesetzten in Bern kein Urlaub gewährt wurde und sich die Urner nach einem anderen Nachrichter - er wurde damals noch namentlich in den Zeitung erwähnt - umsehen mussten. Das Odium um den Scharfrichter lässt es verständlich erscheinen, dass bei den letzten Exekutionen in Zug und Sarnen sein Name nicht bekanntgegeben wurde und heute noch streng geheim gehalten wird.



Die mit sicherheit bei den letzten fünf Hinrichtungen - Muff, Wütschert, Bernet, Irninger und Vollenweider- verwendete Guillotine wird in Luzern aufbewahrt. Der Stand der Luzern wollte diese Guillotine im Jahre 1910, als der Mörder Muff verurteilt war, vom Kanton Schaffhausen ausleihen, erhielt die Hinrichtungs-maschine jedoch nur durch käufliches Erwerb. In den späteren Jahren lieh sie Luzern dann jeweils den benachbarten Ständen aus.

Das Luzerner Zentralgefängnis, in dem sich die Untersuchungshäftlinge befinden, steht am Löwengraben 18. Auf dem Estrichboden liegen zwischen eisernen Bettgestellen, Strohsäcken und zum trocknen ausgebreiteten Zwiebeln vier schwarze Kisten, in denen die letzte Guillotine der Schweiz aufbewahrt wird. Zu dem abmontierten vier Meter hohen Blutgerüst gehört ein zehnmal kleineres Modell, das zur Aufrichtung des Originals und für die Instruktion des in den letzten Jahrzehnten nicht mehr geübten Scharfrichters benötigt wurde. An dem Modell können - wie uns kürzlich ein Augenschein überzeugte - alle Handgriffe der Hinrichtung vollzogen werden: das Anschnallen des Verurteilten, der liegend unter das aufgezogene Fallschwert geschoben wird, das Öffnen der Klingensicherung und endlich die Auslösung des in Wirklichkeit 40 Kilogramm wiegender Klinge. Das Modell weckte ein gewisses Interesse am rein mechanischen Vorgang und liess uns den Zweck der Maschinerie beinahe vergessen. Aber eine beklommene Stimmung trat ein, als wir nun die Kisten mit der eigentlichen Guillotine öffneten, die schwarzen Tücher ausbreiteten, die zur Ausrüstung gehören, damit man der Richstsätte wie es heisst, einen "würdigen" Anblick verleihen konnte, und zuletzt das Schwert in der Hand hielten und die eingetragenen Namen der vom Leben zum Tod Gebrachten vor Augen hatten. Wir verliessen den Dachraum und seine unheimliche Fracht mit der Gewissheit, dass die noch vor zehn Jahren verwendete Guillotine der Historie angehört.

Bericht aus der NZZ (Neue Zürcher Zeitung) vom 22.10.1950